![]() |
Social Housing in Mulhouse
Noch kleiner und noch kompakter lautet die traditionelle Formel für den effizienten Massenwohnungsbau. Die experimentelle Reihenhaussiedlung Cité Manifeste will diesen Trend umkehren: von der Minimalwohnung zur Maximalwohnung für alle. Von den fünf beauftragen Architekturteams erfüllen Lacaton & Vassal am radikalsten die Forderung nach mehr Volumen und mehr Spielraum für die individuelle Aneignung. Mit billigen Industrieprodukten und dem Verzicht auf Highend-Details produzieren sie zum üblichen Preis fast doppelten Raum. Auf einem Sichtbetongeschoss sorgt eine Gewächshauskonstruktion aus Polykarbonat im Obergeschoss für grosszügige Belichtung bei einer Wohnungstiefe von 18 m, wobei nur zwei Drittel thermisch isoliert sind. Den Rest sollen die Bewohnerinnen und Bewohner mithilfe von Schiebeelementen und Sonnensegeln selbst klimatisch steuern, ähnlich wie sie die nicht in Zimmerunterteilten Lofts erst erobern müssen. Die Rauheit der Ausführung erleichtert das Andocken und die flexible Schaltbarkeit der semitransparenten Wintergärten ermöglicht visuelle, wenn auch nicht akustische Privatheit im engen Siedlungsraster.
Angelika Fitz
Private Vorgärten im Wechsel mit Garageneinfahrten
|
![]() © Eric Firley, 2008 |
Die Herausforderung des Bewohnens Mulhouse, September 2008
Eine experimentelle Siedlung in Mulhouse, betitelt als Cité Manifeste, sorgte zur Zeit ihrer Fertigstellung 2005 für großes Medienecho. Die Tagespresse und Fachzeitschriften machten beispielsweise mit Schlagzeilen wie „Günstig und gut“ (1), „Manifest für neue soziale Wohnbauten“ (2) oder „Lofts im sozialen Wohnbau“ (3) auf die Ungewöhnlichkeit der von fünf Architektinnen- und Architektenteams geplanten Wohnbauten aufmerksam. Das Projekt hatte sich zur Aufgabe gestellt, unter Verwendung kostengünstiger, im Wohnbau unüblicher Materialien größere und offenere Räume anzubieten, diese aber zum Preis von Wohnungen mit Standardgrößen zu vermieten. Mit enormer Neugierde begegneten die Medien der Frage, ob man hier ein neues Modell für den sozialen Wohnbau geschaffen hätte. Viele der Artikel endeten mit dem Zusatz, man werde erst im Laufe der Zeit beurteilen können, ob das experimentelle Projekt die hohen Ansprüche erfüllt.
Die Ausstellung Wohnmodelle bietet die Gelegenheit, die Wohnbauten drei Jahre nach ihrer Fertigstellung zu besuchen und den Bauteil des Büros Lacaton & Vassal genauer zu betrachten. Dieser kommt von den fünf Projekten am konsequentesten der Forderung des Gesamtprojektes nach, die Bewohnerinnen und Bewohner als Akteurinnen und Akteure in die Gestaltung ihres Wohnraumes miteinzubeziehen.
Den historischen Hintergrund für das Projekt bildet die Cité Ouvrière, eine Arbeiterinnen- und Arbeitersiedlung, in deren Kontext sich die neuen Reihenhäuser befinden. Um der untragbaren Wohnsituation der Arbeiterinnen und Arbeiter zu begegnen, wurde die Société mulhousienne des cités ouvrières (SOMCO) gegründet, die noch heute im sozialen Wohnbau tätig ist. Im Jahre 1853 begann diese mit dem Bau der Anlage, deren Häuser über das System des Mietkaufes in den Besitz ihrer Bewohnerinnen und Bewohner übergingen. Der für diese Ansiedlung entworfene Haustyp, der so genannte „carré mulhousien“, der vier Häuser, durch eine kreuzförmige Wand getrennt, zu einem Gebäude zusammenfasst, hatte sich bewährt und als sehr erweiterungsfähig erwiesen. Über die Jahrzehnte wurde er, da im Privatbesitz, nach Bedarf umgebaut, sodass im heutigen Zustand der alten Cité der ursprüngliche Typus kaum wieder zu erkennen ist. ...
(1) Judith Solt, archithese 4.2005
(2) Julien Brygo: „À Mulhouse, un manifeste pour de nouvelles HLM“, in: L’Humanité, 13. August 2005
(3) Axel Simon, „Lofts im sozialen Wohnbau“, in: Der Standard, 12. März 2005
Lisa Schmidt-Colinet
Volltext siehe Katalog
Größere Kartenansicht













